Biotensegrität

Die Idee

Schon immer nutzen Menschen Modelle, um Sachverhalte zu erklären, die so komplex sind, dass sie sie anders nicht fassen können. Dabei ist klar, dass ein Modell die Realität nie zu 100% abbildet. Aber es ist die beste, zu dieser Zeit bekannte Annäherung.

Wir kennen Modelle beispielsweise von Betrachtungen der Erde (erst Scheibe, dann Kugel) oder etwas moderner aus der Chemie die verschiedenen Atommodelle. Einige beobachtbare Phänomene werden im Modell gut beschrieben, andere weniger (z.B. die frühere Angst vom Rand der Erde zu stürzen).

Auch in der Bewegungslehre finden solche Modelle Anwendung. Lange Zeit galt die Biomechanik als „State of the Art“ und so legten wir Hebelgesetze an unsere Pferde an und überlegten in welcher Haltung ein Pferd laufen muss, damit es im Stande ist einen Reiter zu tragen. Die Biomechanik hätte sich nicht so lange gehalten (in vielen Kreisen bis heute), wenn es absolut an der Realität vorbei wäre. Aber sie limitiert die Bewegungsmöglichkeiten der Pferde stark und kann einige Phänomene nicht erklären. Beispielsweise wie ein Pferdebein die Landung nach einem Sprung unbeschadet überstehen kann.

In den 1980er Jahren kam ein neues Erklärungsmodell auf, die Biotensegrität. Die Idee stammte ursprünglich aus der Architektur. Starre und elastische Elemente spannen einen Raum auf und zwar ohne, dass die starren Elemente sich berühren. Diese Gebilde sind extrem stabil, vor allem gegen Druckkräfte.

Der Chirurg Stephen Levin verstand, dass dieses Konzept sich auch auf Körper übertragen lässt und die Realität deutlich besser abbildet als die Gesetze der Mechanik. Dabei sind die Knochen die starren Elemente, der Faszienapparat bildet die elastische Komponente. Muskeln dienen hierbei nicht primär dem Aufspannen des Körpers, sondern initiieren Bewegung. (Dies ist wissenschaftlich belegt: Präpariert man einen toten Pferdekörper so, dass man alles weg nimmt außer Knochen und Faszien, steht er.)

Dieses neue Erklärungmodell findet mittlerweile auch Einzug ins Pferdetraining, das tatsächlich in einigen Bereichen neu gedacht werden muss. Zuallererst bedeutet dies: Keine Angst vor bestimmten Bewegungen. Alles, was der Körper kann, darf er auch tun. Im Gegenteil: eine künstliche Limitierung der Bewegungen macht den Faszienkörper langfristig unflexibler und den gesamten Bewegungsapparat anfälliger für Verletzungen.

Außerdem ist wichtig zu verstehen, dass ein Körper sich gerade unter Druck ausdehnen soll. Nur ein voll entfaltetes biotensegrales System ist maximal stabil und kann aufkommende Druck- und Zugkräfte optimal verarbeiten.

Warum ist es wichtig, welches Modell ich im Kopf habe?

Lebewesen sprechen sehr gut auf innere Bilder an. Wir machen uns dies im Reitunterricht gerne zu nutze, um ein bestimmtes Körpergefühl zu vermitteln. Aber auch die Pferde verändern den Ausdruck ihrer Bewegung, je nach dem ob und welches Bild wir während der Arbeit mit ihnen im Kopf haben. Denken wir biomechanisch, schränken wir die Bewegungen unseres Pferdes unbewusst ein. Alles soll in einer Ebene bleiben, schön auf Spur, die dreidimensionale Ausdehnung des Körpers fehlt oft komplett und wir haben Angst vor einem Verwerfen, vor einem verdrehen eines Gelenks, vor wilden Bocksprüngen, selbst wenn wir garnicht reiten.

Haben wir stattdessen ein biotensegrales Bild des Pferdes im Kopf, dann bekommt der Körper die Möglichkeit den Raum einzunehmen, den er braucht. Dann ist keine Bewegung mehr schlimm, wir sprechen unserem Pferd Kompetenz zu und fokussieren uns auf Leichtigkeit, statt auf bestimmte Bewegungsabläufe.